Eigentlich hätte die Schweizer Ultracyclerin Nicole Reist im Laufe des Tages im Ziel des weltweit längsten Extrem-Radrennens ankommen sollen, dem Race Across America, das über fast 5000 Kilometer und 66'000 Höhenmeter nonstop von der amerikanischen Westküste an die Ostküste führt. Am Samstagnachmittag, kurz nach 14:00 Uhr (MEZ), nur rund 70 km vor dem Ziel, passierte es jedoch:
Nicole Reist stürzte und blieb für kurze Zeit bewusstlos liegen. Kurz danach war sie zwar wieder ansprechbar, wurde für nähere Abklärungen aber ins Spital gebracht und fuhr das Rennen damit nicht zu Ende. Dass aus dem anvisierten Damen-Speedrekord von 1995 nichts wird, zeichnete sich jedoch schon früher ab.
Die fast 5000 Kilometer mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von über 21,3 km/h radeln, also in maximal 9 Tagen und 15 Stunden – das war das erklärte und mutig angekündigte Ziel der Schweizer Ultracycling-Legende Nicole Reist für ihr allerletztes Einzelprojekt nach bereits beendeter Karriere. Es war klar, dass alles – wirklich alles – perfekt zusammenpassen musste, um den 29-jährigen Damen-
Speedrekord der Amerikanerin Seana Hogan von 1995, aufgestellt auf einer damals noch deutlich kürzeren Strecke, zu knacken. Das tat es nicht.
Rennen 70 Kilometer vor dem Ziel zu Ende
Nur rund 70 Kilometer vor dem Ziel war das Race Across America, für die Fehraltorferin Nicole Reist zu Ende: Nach einem Sturz war sie für kurze Zeit bewusstlos, weshalb sie für weitere Untersuchungen in ein naheliegendes Spital gebracht wurde. Sie war kurz danach wieder ansprechbar, das Rennen war für sie an dieser Stelle aber beendet. Reists Rekordversuch findet damit kein Happy End. Es ist das erste Mal seit 14 Jahren, dass sie ein Rennen nicht beendet. Dass es mit dem Damen-Speedrekord nichts werden würde, zeichnete sich aber schon viel früher ab.
«Ich kam mit dem Schlafentzug weniger gut klar als in früheren Rennen»
Temperaturen von über 40 °C, nicht nur in der Wüste, sondern auch über weite Teile der restlichen Strecke, überdurchschnittlich viele Baustellen mit Wartezeiten von bis zu 20 Minuten und einmal mehr viel Seiten- und Gegenwind – die äußeren Einflüsse des Race Across America waren auch diesmal nicht auf der Seite von Nicole Reist. Sie hätten das Unterfangen so oder so sehr herausfordernd gemacht. Es lag aber nicht nur an den externen Faktoren, wie Nicole Reist noch während dem Rennen erklärte: «Nebst der großen Hitze kam ich mit dem Schlafentzug und der Müdigkeit diesmal definitiv weniger gut klar als in meinen drei früheren Teilnahmen», analysierte sie sachlich. «Ich konnte den vorab erarbeiteten Zeitplan von Beginn weg nicht einhalten.» Schon am dritten Tag zeichnete sich daher ab, dass es mit dem Rekord sehr schwierig werden würde. Eine strategisch geschickte, logistisch aber komplizierte Rotation innerhalb der Begleitcrew sorgte für mehr Gespräche und damit Unterhaltung für Nicole Reist, wodurch sie sich über eine gewisse Zeit nochmals besser wachhalten konnte. Einen weiteren Tag später musste aber eine andere Lösung her: Das Team stellte die Schlafstrategie von rund einmal zwei Stunden pro Tag um, auf zweimal eine Stunde – also öfter, aber kürzere Pausen. Durch die vermehrten Wechselzeiten wurde Reist so gesamthaft etwas langsamer, kam aber immerhin weiter voran. «Vielleicht habe ich mich in den letzten 9 Monaten als Halbprofi einfach zu fest an gute Erholung gewöhnt», meinte sie sarkastisch.
Aufgeben war keine Option
Auch wenn es mental eine enorme Anstrengung für Nicole Reist war, sich über viele Tage weiter zu quälen, obwohl längst klar war, dass aus dem einzigen, großen Ziel Speedrekord nichts würde, war Aufgeben nie eine Option: «Wir haben im Team kurz besprochen, ob wir abbrechen sollen oder nun einfach noch eine Kaffeefahrt als Abschlussreise für Nicole daraus machen», verrät Teamchefin Christine Wylenmann. «Aber dazu ist Nicole auch nach ihrem Rücktritt definitiv viel zu viel Sportsfrau. Aufgeben kam für sie nie infrage – auch wenn es rückblickend vielleicht besser gewesen wäre.»
Ihr neues Leben: «Es gibt schließlich noch eine andere Welt da draussen!»
Ist denn nun trotz verpasstem Speed-Rekord wirklich Schluss? «Ja, nun ist wirklich Schluss!» bestätigte Reist schon während des Rennens mit beispielloser Bestimmtheit. «Ich habe dem Ultracycling-Sport 20 Jahre lang alles, wirklich alles untergeordnet. Das reicht. Es gibt schliesslich noch eine andere Welt da draussen! Ich freue mich sehr darauf, mehr Zeit zu haben: Für meine Freunde, für andere Hobbies wie Klettern, Wandern oder Musik und auch auf Kapazität, mich beruflich weiterzuentwickeln.» Und erst muss sie sich natürlich nun mal von dem Sturz erholen.
Kehrt sie dem Radsport nun komplett den Rücken? «Nein, so einfach geht das sowieso nicht. Ich muss mein Trainingspensum langsam reduzieren und meinen Körper Schritt für Schritt an ein neues Leben gewöhnen», erklärt sie. «Das ist auch gut so. Denn ich habe mitunter ordentlich Respekt vor diesem neuen Leben und davor, was es mit mir macht … Ich habe gerne klare Strukturen. Diese werde ich mir neu schaffen müssen. Es folgt also bestimmt die nächste Herausforderung für mich – ich hoffe, dass ich auch da von meinen Erfahrungen als Spitzensportlerin profitieren kann!»
Auch in Zukunft gefragte Referentin
Ihre Erfahrungen aus dem Ultracycling-Sport gibt Nicole Reist auch in Zukunft gerne weiter. Schon in
der Vergangenheit hat sie immer wieder Vorträge gehalten und wurde in den letzten Jahren zu einer
gefragten Speakerin. Dafür wird sie in Zukunft mehr Zeit haben. Wer Nicole Reist also gerne mal aus
dem Renn-Nähkästchen plaudern hören oder ein paar ihrer mentalen Tricks für Trainingsmotivation
und übermenschliche Leistungen kennenlernen möchte, kann sie auch zukünftig als Referentin
buchen. Ihre Ultracycling-Erfahrungen bleiben auch über ihre aktive Karriere hinaus mehr als
beeindruckend.