5.000 Kilometer Fahrrad fahren, von der amerikanischen Westküste in Kalifornien bis nach New Jersey an der Ostküste – und das nonstop! Das Race Across America, kurz RAAM, ist das härteste Ultracycling-Rennen der Welt und findet vom 11. bis 23. Juni 2024 bereits zum 42. Mal statt.
Als eine von zwei Frauen in der Solokategorie fährt Nicole Reist aus Fehraltorf nach ihren Siegen 2016, 2018 und 2022 zum vierten und definitiv letzten Mal mit – denn eigentlich ist sie bereits letzten Sommer vom Ultracycling-Sport zurückgetreten. Aber da ist noch diese eine, offene Geschichte, die Reist als Einzelprojekt trotz beendeter Karriere fertig schreiben will: den internationalen Damen-Speedrekord von 1995 knacken. Wenn dies überhaupt möglich ist, dann nur, weil die Hochbautechnikerin und Extremsportlerin seit letztem Herbst erstmals als Halbprofi lebt.
Ultracycling – das ist Ausdauer-Radsport in Extremis und seit 2005 Nicole Reists Paradedisziplin:
Strecken von mehreren tausend Kilometern werden dabei am Stück zurückgelegt sowie ganze Länder
durchquert oder umrundet. Die Athleten sitzen dabei tagelang im Sattel, oft ganz ohne zu schlafen.
Nicole Reist ist die beste Ultracyclerin der Welt, seit 2012 ungeschlagen. Doch letzten Sommer hatte sie
genug. Genug davon, jede Nacht um 2 Uhr aufzustehen, um neben einer Vollzeitstelle als Hochbautechnikerin noch 40 bis 50 Stunden pro Woche zu trainieren. Genug davon, zugunsten des Velofahrens auf jede Geburtstagseinladung zu verzichten. Kurz, genug davon, dem Sport alles – wirklich alles – unterzuordnen. Sie trat zurück. Und bekam nur wenige Wochen darauf die Chance, den Leistungssport nochmals ganz neu zu erleben: als Halbprofi. Was vorher nie möglich schien, klappte plötzlich: Mehr Sponsorengelder, Reduktion des Arbeitspensums auf 60 % und die Zusammenarbeit mit einem neuen Trainer, der statt auf unendlich lange Einheiten vermehrt auf mehrere, intensivere, dafür kürzere setzt. Trotz viel Training bleibt dank des reduzierten Arbeitspensums also mehr Zeit für die so wichtige Erholung und das Sozialleben. Nicole Reist wollte nochmals wissen, was unter diesen Umständen möglich ist – und hängt ihrer bereits abgeschlossenen Karriere deshalb noch ein sehr ambitioniertes Einzelprojekt an.
Ziel Damen-Speedrekord: Schneller als 21,3 km/h
Am 11. Juni 2024 startet Nicole Reist daher zum vierten und definitiv letzten Mal am legendären Race Across America, kurz RAAM – die Mutter und Königin aller Ultracycling-Rennen: 4.938 Kilometer und über 66.000 Höhenmeter von Oceanside, Kalifornien, an der amerikanischen Westküste, nach Atlantic City, New Jersey, an der Ostküste. Nonstop! Ihr ambitioniertes Ziel: Den internationalen Damen-Speedrekord von 21,3 km/h brechen, aufgestellt im Jahr 1995 von der Amerikanerin Seana Hogan. Oder umformuliert: Das eigentlich Unmögliche schaffen! Denn es ist kein Zufall, dass dieser Rekord schon so lange steht. Gerade mal 7 Männer hatten seit 1995 eine schnellere Durchschnittsgeschwindigkeit …
Einerseits steckt dahinter eine absolute Topleistung der Ultracycling-Legende Seana Hogan in einem damals quasi perfekten Rennen. Ein weiterer Grund ist aber auch die Strecke, die schon seit vielen Jahren deutlich länger ist und bedeutend mehr Höhenmeter aufweist. Hogan holte diesen Rekord über 4.686 Kilometer und rund 44.000 Höhenmeter. Um ihn zu knacken, muss Nicole Reist ihren Speed nun also deutlich länger aufrechterhalten als Hogan 1995, nämlich über 250 zusätzliche Kilometer und vor allem rund 20'000 Extra-Höhenmeter. Rund einen halben Tag länger wird die Zürcher Oberländerin also durchhalten müssen – was nach über 9 Tagen voll am Limit einen riesigen Unterschied macht. Mit einer Zeit von 9 Tagen und 15 Stunden würde sie den Speed-Rekord knacken. Der Damen-Streckenrekord, also die Gesamtzeit von 9 Tagen und 4 Stunden, ebenfalls 1995 von Seana Hogan aufgestellt, wird auf der heute viel längeren Strecke wohl kaum mehr gebrochen werden können.
Halbprofileben soll den Unterschied machen
Dennoch: Selbst den Damen-Speedrekord von 21,3 km/h auf dieser viel bergigeren und längeren Strecke zu brechen, mutet wie ein kühner Traum an. Warum also glaubt Nicole Reist daran? 2018 kam sie nach 9 Tagen, 23 Stunden und 57 Minuten ins Ziel. Die magische Grenze von unter 10 Tagen hat sie also schon mal geknackt. 2022 war sie während fast 8 Tagen auf Rekordkurs – bis ein Sturz 300 Kilometer vor dem Ziel den Traum jäh beendete. «Es ist tatsächlich so, dass es ein Rennen braucht, bei dem so gut wie alles zusammenpasst, um den Rekord zu knacken», gibt die Ausnahmeathletin zu. «Ich kann mit meinem Team aber mittlerweile die Erfahrung von drei RAAMs in die Waagschale werfen. Wir sind auf lle Eventualitäten vorbereitet und meine Schlafstrategie ist nochmals optimiert», verrät sie. Zudem kann sie nach jahrelangen Lebensmittelallergien endlich wieder alles essen und ihren Körper aktuell so gut versorgen, wie noch nie. «Und natürlich erhoffe ich mir den entscheidenden Unterschied, weil ich nun seit mehreren Monaten den Traum vom Halbprofidasein leben kann. Ein riesiges Privileg. Die zusätzliche Zeit, die ich zur Verfügung habe, stecke ich nicht ins Training, sondern vor allem in richtige gute Regeneration. Das hatte früher gar nie Platz. Ich bin also tatsächlich so fit und erholt, wie noch nie!»
«Nach diesem Einzelprojekt ist Schluss!»
Ist diese neue Lebenssituation nun also der Rücktritt vom Rücktritt? «Nein!», sagt Nicole Reist mit einer Bestimmtheit, wie man sie nur von der Fehraltorferin kennt. «Nach dem RAAM 2024 ist definitiv Schluss! Ich wollte einfach diese einmalige Chance von ein paar Monaten Halbprofidasein nutzen, um mich noch auf dieses Abschlussprojekt vorzubereiten», begründet sie ihren Start. Sie bezeichnet ihre Karriere nach wie vor als letzten Sommer beendet. «Ich durfte 2023 ungeschlagen in Ultracycling-Rente gehen – und das bleibt so. Der stets selbstauferlegte Druck, zu gewinnen, ist weg. Für mich ist es ein Post-Karriere-Einzelprojekt, mit dem einzigen Ziel Damen-Speedrekord. Erreiche ich es, ist dies die Krönung und der Lohn für 20 Jahre harte Arbeit. Klappt es nicht, bricht für mich keine Welt zusammen. Mir ist wichtig, dass wir als Team alles, was in unseren Händen liegt, optimiert und am Start stehen, mit dem Wissen, dass wir alles, was wir können, getan haben, diesen Rekord zu brechen. Im
Rennen sind wir auch auf Glück angewiesen – das gehört bei unserem Sport einfach dazu.»
23 Ultracycling-Rennen gewonnen
Im Ultracycling der Frauen ist die in Tann aufgewachsene Nicole Reist das Maß der Dinge und hat alles erreicht, was in diesem Extrem-Radsport zu erreichen ist – obwohl sie stets in einem Vollzeitpensum als Hochbautechnikerin gearbeitet hat. Sie ist seit 2012 ungeschlagen, hat seither bei den Damen jedes Ultracycling-Rennen gewonnen, zu dem sie gestartet ist und ist damit innerhalb der Damenszene eine absolute Klasse für sich. Sie ist fünffache Weltmeisterin, zweifache Europameisterin, dreifache Schweizermeisterin und hat in ihrer Karriere 23 Ultracycling-Rennen gewonnen.
Oder anders ausgedrückt: Keine Frau war während 50.000 Rennkilometern und 600.000 Höhenmetern je schneller als sie. Einen Sieg hat man in diesem Sport dennoch nie auf sicher: «Ein Rennen wie das RAAM beinhaltet trotz der Erfahrung von der Crew und mir immer wieder viele Unbekannte. Was möglich ist, hängt jeweils auch stark von äußeren Bedingungen wie dem Wetter ab», erklärt Nicole Reist. Das Zusammenspiel von Körper und mentaler Stärke fasziniert sie nach wie vor. «Genauso wichtig ist aber auch das Team, das mich während der Rennen mit dem Auto begleitet, mich betreut, navigiert, für Unterhaltung sorgt, mich wach hält und mein Essen bereitstellt», betont sie. «Ultracycling ist also nicht einfach ein Einzelsport, sondern eine riesige Teamleistung!»
Verfolgen Sie Nicole Reist am RAAM live
Während dem Race Across America vom 11. bis 23. Juni 2024 wird das Team von Nicole Reist regelmäßig
und aktuell berichten. Interessierte können Nicole Reist live mitverfolgen:
- auf ihrer Webseite www.nicolereist.ch,
- auf Facebook unter www.facebook.com/berggeiss.nicolereist,
- auf Instagram via www.instagram.com/berggeiss.nicolereist
- auf dem RAAM-Livetracking, Start-Nr. 549: https://www.raamrace.org/live-tracking.
Über Nicole Reist
Die 39-jährige Nicole Reist ist passionierte Ultracyclerin, also Langdistanz-Radrennfahrerin, und lebt in Fehraltorf. Sie ist mehrfache Weltmeisterin, Europameisterin und Schweizermeisterin und hat seit 2012 jedes Ultracycling-Rennen über mehrere Tausend Kilometer nonstop gewonnen, zu dem sie gestartet ist – unter anderem schon dreimal das legendäre Race Across America, das härteste Radrennen der Welt, über fast 5.000 Kilometer von der amerikanischen West- an die Ostküste. Letzten Sommer ist sie zurückgetreten, startet dieses
Jahr aber am 11. Juni zum letzten Mal am RAAM und will in diesem Abschluss-Projekt noch einmal Geschichte schreiben. Trotz ihres umfangreichen Trainingspensums arbeitet sie in einem 60 %-Pensum als Hochbautechnikerin in einem Architekturbüro. www.nicolereist.ch
Über das Race Across America
Das Race Across America (RAAM) ist das härteste und längste Ultracycling-Rennen der Welt und findet vom 11. bis 23. Juni 2024 zum 42. Mal statt. Die Strecke führt über 4938 Kilometer (3.000 Meilen) und 66'000 Höhenmeter quer durch die USA, von Oceanside in Kalifornien an der Westküste durch 13 Staaten bis nach Atlantic City in New Jersey an der Ostküste, nonstop. Über 360 Fahrer und Fahrerinnen starten in 2er-, 4er- oder 8er-Teams, dazu 29 Soloathleten, wovon 2 Frauen. Die maximal erlaubte Zeit für Solofahrer beträgt 12 Tage. Die Strecke ist rund ein Drittel länger, als die der Tour de France – wird allerdings in nur einer statt 21 Etappen absolviert. Jedes Jahr scheitern über 50 % der Startenden, gut 70 % der erstmalig Startenden (Rookies) erreichen das Ziel nicht. Der aktuelle Geschwindigkeitsrekord der Damen von 21,3 km/h wurde 1995 von der Amerikanerin Seana Hogan auf einer bedeutend kürzeren Strecke aufgestellt. www.raamrace.org