Deutschland hat das Potenzial, den Radverkehrsanteil an Wegen bis 30 Kilometer Länge bis 2035 zu verdreifachen und die Verkehrsemissionen im Nahbereich um 34 Prozent zu reduzieren. 19 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente können jährlich eingespart werden, wenn die Radwege hervorragend ausgebaut, gute Schnittstellen mit Bus und Bahn geschaffen und die Kommunen fahrradfreundlich mit kurzen Wegen geplant werden. Das belegt eine Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI, die der Fahrradclub ADFC in Auftrag gegeben und heute in Berlin vorgestellt hat.
ADFC-Bundesvorsitzender Frank Masurat sagt: „Wir sind froh, nun den wissenschaftlichen Nachweis dafür zu haben, dass unsere These stimmt. Deutschland kann bis 2035 ein weltweit führendes ‚Fahrradland-Plus‘ werden, in dem die Menschen gerne und sicher fast die Hälfte der alltäglichen Wege auf dem Rad zurücklegen. Es ist erwiesen, dass das Fahrrad enormes Potenzial zur Verbesserung der Klimabilanz hat, da es ein Drittel der Verkehrsemissionen im Nahbereich einsparen kann. Voraussetzung ist, dass die Verkehrspolitik den ambitionslosen ‚Weiter wie bisher‘-Kurs verlässt und leistungsfähige Radwegenetze baut, eine hervorragende Verknüpfung von Rad und Bahn fördert und Kommunen mit kurzen Wegen und angepasstem Verkehrstempo schafft. Wenn es Deutschland mit den Klimazielen und hoher Lebensqualität ernst meint, muss das Fahrrad der neue Goldstandard für die alltägliche Mobilität sein – und mit neuem politischem Elan gefördert werden.“
Dr. Claus Doll, Projektleiter des Fraunhofer ISI ergänzt: „Klassische Prognosen unterschätzen die Potenziale des Radverkehrs bislang massiv, weil sie die besonderen Anforderungen dieser Verkehrsart nicht ausreichend berücksichtigen. Wir haben in den für den ADFC erstellten Potenzialabschätzungen erstmals entscheidende Faktoren wie die Kontinuität und Dichte des Radwegenetzes, das Sicherheitsempfinden im Verkehr, die Verknüpfung des Radverkehrs mit Bus und Bahn sowie die Gestaltung der Wegelängen in einer Gemeinde in die Analyse einbezogen - und sind zu viel treffenderen Potenzialen gekommen. Ein Ergebnis daraus ist: Bei entsprechender politischer Ambition, ausreichenden Ressourcen und dem Abbau überflüssiger Bürokratie ist eine Verdreifachung des Radverkehrsanteils möglich. Voraussetzung dafür ist die vollständige Umsetzung der politischen Maßnahmen, die wir unseren Berechnungen zugrunde gelegt haben.“
Zentrale Studienergebnisse zum Potenzial des Radverkehrs auf einen Blick:
- Verdreifachung des Fahrradanteils am Gesamtverkehr auf 45 % möglich (aktuell: 13 %)
- Größtes Potenzial in Regiopolen (63 %), aber auch auf dem Land Verdreifachung möglich.
- Einsparung von plus 19 Mio. t CO₂ p.a. ggü. Fortführung aktueller Verkehrspolitik möglich.
-
- Das entspricht 34 % der Emissionen im Personenverkehr
Die Ergebnisse gelten für den Zeithorizont 2035 und alle Wege im Personenverkehr bis 30 km. Die Forschungsgruppe hat die Potenziale des Radverkehrs im Rahmen eines Leitbilds „Fahrradland Deutschland“ mit drei Ausbaustufen berechnet.
Diese Ausbaustufen für die volle Potenzialentfaltung liegen den Berechnungen zugrunde:
- Einladende Radinfrastruktur: Verdreifachung und Verbesserung der Radwege – vom Autoverkehr getrennt und geschützt, in dichten, lückenlosen Netzen, sicher und komfortabel.
- Gute Schnittstellen zu Bus und Bahn: Bahnhöfe und Haltestellen sind gut mit dem Fahrrad erreichbar und verfügen über moderne Fahrradparkplätze – besonders im ländlichen Raum.
- Fahrradfreundliche Kommunen: Städte und Gemeinden schaffen kurze Wege und fahrradfreundliche Bedingungen durch verbesserte Nahversorgung, Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit und Umgestaltung von Parkraum.
„Weiter-wie-bisher“ reicht nicht aus
Die Forschungsgruppe des Fraunhofer ISI hält fest, dass das volle Potenzial des Radverkehrs für den Klimaschutz bei Fortführung der aktuellen Verkehrspolitik nicht ausgenutzt wird. Bei Beibehaltung des derzeitigen Kurses schätzen die Forschenden eine Erhöhung des Radverkehrsanteils im Nahbereich von 13 auf 15 Prozent bis 2035. Bei Umsetzung aller berechneten Maßnahmen kann der Anteil auf 45 Prozent steigen. Städte im In- und Ausland – wie Münster, Oldenburg, Utrecht, Antwerpen und Amsterdam – zeigen, dass diese Größenordnung realistisch ist. Gegenüber dem bisherigen politischen Kurs ist bei Umsetzung aller drei Ausbaustufen für ein fahrradfreundliches Deutschland bis 2035 eine zusätzliche jährliche Einsparung von 19 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalenten möglich.
ADFC fordert konsequente Umsetzung des „Fahrradland-Plus“
Um die Klimaziele im Verkehr zu erreichen und mehr Lebensqualität in Städten und Gemeinden zu bringen, fordert der ADFC die konsequente Umsetzung des skizzierten „Fahrradland-Plus“. Masurat: „Die Verkehrswende muss schneller als bisher auf die Straße kommen. Die Umsetzung des ‚Fahrradland-Plus‘ ist dafür der günstigste und effizienteste Weg.“ Konkret fordert der ADFC:
- Politischen Mut und Umsetzungswillen zum schnellen Ausbau durchgängiger, sicherer, einladender Radinfrastruktur in allen deutschen Kommunen.
- Den Nationalen Radverkehrsplan zu einem ambitionierten Aktionsplan für das Fahrradland-Plus weiterzuentwickeln
- Bis spätestens 2035 bundesweit lückenlose Radwegenetze zu schaffen und dafür die Mittel in Bund, Ländern und Kommunen aufzustocken und langfristig zu sichern
- Die fahrradfreundliche Modernisierung des Straßenverkehrsrechts (StVG und StVO) und der technischen Regelwerke umzusetzen
- Mobilitätsgesetze auf Länderebene zu verabschieden, um Kommunen zum Ausbau der Radwegenetze zu verpflichten
Hintergrund zur Studie des Fraunhofer ISI
Deutschland soll laut Nationalem Radverkehrsplan ein attraktives Fahrradland werden. Der Radverkehr soll zunehmen – aber die Datenlage ist unbefriedigend, und niemand kann beziffern, wie hoch das Potenzial des Radverkehrs eigentlich ist. Übliche Verkehrsprognosen unterschätzen den Radverkehr, da sie die weichen Faktoren der Verkehrsmittelwahl – Qualität der Infrastruktur, Stressfreiheit, Sicherheitsgefühl – nicht berücksichtigen. Der Fahrradclub ADFC hat deshalb beim renommierten Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI eine Potenzialanalyse für den Radverkehr in Auftrag gegeben, dessen Ergebnisse heute erstmals veröffentlicht wurden. Die Ergebnisse stellen grundlegende Potenziale dar, keine Prognosen.
Hintergrund zum „Fahrradland-Plus-Modell 2035“
Während die Bundesregierung im Nationalen Radverkehrsplan das Zieljahr 2030 für die Umsetzung des „Fahrradlandes“ anvisiert, wird in der Studie des Fraunhofer ISI ein längerer Zeithorizont gewählt, da die Umsetzung des flächendeckenden Radwegeausbaus, die Verbesserung der Schnittstellen zu Bus und Bahn und die fahrradfreundliche Umgestaltung der Städte nach Ansicht der Forschungsgruppe Zeit bis 2035 braucht. Den Bezugsrahmen der Studie bildet der landgebundene Personenverkehr im Entfernungsbereich bis 30 Kilometer, da der Radverkehr im Wesentlichen im Nahbereich stattfindet.