Das Fahrrad ist eines der saubersten Fortbewegungsmittel, doch die Herstellung erfordert Energie, Rohstoffe und produziert nicht zuletzt jede Menge an CO2, wie etwa die Pedelection-Studie belegt. Warum also nicht einfach alte Räder recyclen? Das dachte sich Tiemen ter Hoeven und gründete Roetz Bikes.
Mit seinem Team sammelt er Fahrradleichen von niederländischen Straßen, restauriert sie und schafft so einzigartige Räder. Er beschäftigt dafür vor allem Menschen, die schlechte Chancen auf dem regulären Arbeitsmarkt haben. Im Interview von der Agentur Team Code Zero erzählt er, warum er das tut, weshalb ihm seine Mission wichtiger ist als Profit und wieso er jetzt mit dem Zwickauer Antriebsspezialisten Pendix zusammenarbeitet.
Upcycling im besten Sinn: Wie Roetz Bikes Menschen und Fahrrädern hilft
Roetz. Sprich: Ruutz – allein schon dieser Name hat es doppelt in sich. Eine Melange aus dem holländischen Begriff für Rost und dem Motto „Back to the roots“. Dabei sind die Fahrräder, die das niederländische Unternehmen Roetz herstellt, alles andere als rostig: Aus verwaisten Rädern entstehen robuste und farbenfrohe Unikate. Und dafür beschäftigen die Amsterdamer vor allem Menschen, die es durch soziale oder körperliche Beeinträchtigungen schwer auf dem Arbeitsmarkt haben. Oder hatten. Im Interview der Agentur Team Code Zero aus Berlin erzählt Gründer Tiemen ter Hoeven, wie das Konzept funktioniert, warum Wachstum für ihn nicht an erster Stelle steht und wieso Roetz jetzt mit dem deutschen Antriebsspezialisten Pendix zusammenarbeitet.
Interview mit Tiemen ter Hoeven, Gründer von Roetz Bikes
Roetz Bikes gibt es bereits seit über zehn Jahren. Wie ist damals die Idee entstanden, alten Rädern neues Leben einzuhauchen?
Das war eher zufällig durch meinen damaligen Job. Ich war Unternehmensberater. Ein Auftrag führte mich 2009 nach Deutschland. Es ging um die Instandsetzung von Fahrrädern im B2B-Bereich, und bei diesem Projekt habe ich bemerkt, was für ein Potential dahinter steckt. Natürlich hätten wir die Räder einfach recyclen und den Rohstoff nutzen können, wie es ja vielerorts noch geschieht. Doch damit hätten wir unseren ökologischen Fußabdruck auch nicht kleiner gemacht. Im Gegenteil. Und so kam ich auf die Idee: Holländische Räder, besonders die Älteren, sind aus Stahl gefertigt und haben fast identische Rahmen – perfekt also für die Wiederverwertung. So ist 2011 dann Roetz Bikes entstanden.
Wie funktioniert euer Konzept genau?
Fahrradleichen sind ein Problem in den Niederlanden. Nicht nur an Bahnhöfen werden Räder zurückgelassen. Für die Entsorgung müssen die Städte jährlich große Summen aufbringen. Wir übernehmen diese Räder, nehmen sie auseinander und verwerten die Einzelteile. Wir entrosten und sandstrahlen die Rahmen und versehen sie mit einer neuen Pulverbeschichtung. Zusätzlich bekommen die Räder neue Felgen, Reifen, Sitze, Bremsen, halt alles, was ein Rad so braucht. So entsteht auch aus den schlimmsten Fällen wieder ein neuwertiges, zuverlässiges und sicheres Fahrrad. Und vor allem ein Einzigartiges: Zwar sehen unsere Räder auf den ersten Blick ähnlich aus, doch sie sind alle Unikate. Mit unserer Kreislauf-Methode können wir inzwischen rund 30 Tonnen Rohmaterial pro Jahr einsparen. Das hilft allen Seiten – die Städte sparen Geld und werden ansehnlicher, und wir tun etwas für die Umwelt. Im doppelten Sinn.
Eine weitere Besonderheit eurer Arbeit ist ja, dass ihr vor allem Menschen beschäftigt, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben. Wie kam es dazu?
Wir wollten die Dinge von Anfang an anders machen und Menschen helfen. 2017 haben wir dann die Roetz Fair Factory gegründet. Hier bieten wir Menschen mit sozialen oder körperlichen Beeinträchtigungen, Einwanderern, aber auch Quereinsteigern, die Möglichkeit, an Trainingsprogrammen teilzunehmen, und wir können ihnen sogar eine berufliche Perspektive geben. Unsere Lehrgänge dauern zwischen sechs Monaten und zwei Jahren. Die Trainees lernen dort im Berufsleben zu stehen, mit Werkzeugen umzugehen und schließlich Fahrräder zu bauen. Von den jährlich 100 Teilnehmern bleiben rund 33 Prozent langfristig in der Fahrradindustrie. Unsere Coaches brauchen manchmal viel Geduld und Fingerspitzengefühl, aber wir wollen die Talente aus jedem Einzelnen herauskitzeln und sie fit für den regulären Arbeitsmarkt machen. Die Absolventen arbeiten dann später entweder bei uns, bei Partnern oder eben in der freien Wirtschaft.
Und könnt ihr so wirtschaftlich arbeiten?
Naja, wir sind zumindest seit über zehn Jahren erfolgreich am Markt. Und im Ernst: Natürlich wollen wir als Unternehmen wachsen, aber nicht um jeden Preis. Wir sehen – genau wie unsere Investoren - unsere Arbeit auch als soziale Mission. Sicherlich könnten wir den Umsatz steigern, wenn wir nur ausgebildete Fahrradmechaniker einstellen würden, aber ein positiver Einfluss auf die Gesellschaft ist uns wichtiger. Im Moment beschäftigen wir 45 Mitarbeiter in Voll- und Teilzeit – je nach Leistungsfähigkeit. So können wir im Jahr rund 2.500 Fahrräder bauen, hinzu kommen noch weitere Projekte in Kooperation mit niederländischen Dienstrad-Anbietern.
Eure Räder lassen sich nach Lust und Laune konfigurieren, auch mit elektrischen Antrieben. Dafür arbeitet ihr jetzt mit Pendix aus Zwickau zusammen. Wie kam es zu der Kooperation?
Die Niederländer waren lange Zeit skeptisch gegenüber E-Bikes, inzwischen hat aber ein Umdenken stattgefunden. Auch hier wünschen sich jetzt immer mehr Menschen Unterstützung beim Fahren. Deshalb haben auch wir uns entschlossen, unsere Fahrräder zu elektrifizieren. Wir entwickeln im Moment ein eigenes Modell, das sich kaum von einem regulären Fahrrad unterscheiden lässt. Aber da wir unseren Kunden gerne mehr Auswahl geben möchten, haben wir uns für die Zusammenarbeit mit Pendix entschieden. Auf der Eurobike 2019 habe ich die Nachrüstsysteme von Pendix das erste Mal erlebt, und sie haben mich von Anfang an überzeugt. Der eDrive ist verlässlich, robust und passt als Mittelmotor perfekt an unsere Fahrräder. Außerdem hat das System eine tolle Reichweite, es ist also auch für Menschen interessant, die längere Touren unternehmen oder täglich mit dem Rad zur Arbeit fahren. Bei unseren Verkäufen sind die regulären und elektrischen Varianten fast gleichauf.
Und wie bist du selbst am liebsten unterwegs?
Ich bin ein großer Fan von allem was Räder hat, auch von klassischen Autos. Die Zukunft gehört aber den Fahrrädern. Ich selbst habe inzwischen vier Modelle, mit denen ich im Alltag unterwegs bin. Wenn meine Kinder dabei sind, nehme ich am liebsten auch die elektrische Variante. Bei uns in Amsterdam gibt es viele tolle Strecken für Ausflüge, etwa an den Kanälen entlang. Oder im Norden der Stadt, wo unser Werksgelände ist. Dort gibt es im Umkreis viele Dörfer zu entdecken, die einen ganz eigenen Charme haben. Und etwas zu lernen gibt es dort auch, etwa darüber wie dort früher Schiffe gebaut wurden.
Welche Pläne und Wünsche habt ihr für die Zukunft?
Im Moment liegt unser Fokus noch auf den Niederlanden. Wir arbeiten aber auch schon daran, stärker im DACH-Raum vertreten zu sein – die Kooperation mit Pendix war dafür ein erster Schritt. Neben unserem Online-Shop haben bereits Händler in Berlin, Leipzig, Basel oder Wien unsere Räder im Sortiment. In den deutschsprachigen Ländern gibt es eine große Fahrrad-Begeisterung, und die Menschen sind an Nachhaltigkeit interessiert. Deshalb denken wir, dass unser Konzept auch dort gut funktionieren wird. Wir können es uns nicht mehr erlauben, eine Wegwerfgesellschaft zu sein. Generell brauchen wir mehr Achtsamkeit und Wertschätzung – nicht nur für Fahrräder, sondern auch für Menschen und alle Produkte. An diesem Ziel werden wir weiter arbeiten.