Das Fahrradjahr 2020 ist eine Achterbahnfahrt zwischen Lockdown, Verkaufsrekorden und Lieferengpässen. In vielen deutschen und europäischen Städten wird der Radverkehr neu entdeckt und bekommt mehr Platz. Wird es 2021 so weiter gehen?
Mit dieser Frage beschäftigte sich eine Expertenrunde auf Einladung des pressedienst-fahrrads: Neben wirtschaftlichen Aspekten diskutierten sie auch, welche Bedeutung das Wahljahr 2021 für die weitere Entwicklung des Radverkehrs haben wird.
„Fahrrad ist das neue Klopapier“ – diese Überschrift aus dem Mai 2020 verdeutlicht, welche Rolle das Fahrrad während des Corona-Jahres 2020 einnahm. Im April und Mai wurden die Radläden in Deutschland überrannt. Der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) meldete für das erste Halbjahr einen Verkauf von 3,2 Millionen Fahrrädern, was ein Plus von 9,2 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum bedeutet. Und das, obwohl die meisten Radläden ihren Verkauf im März und April schließen mussten. Albert Herresthal vom Verbund Service und Fahrrad (VSF) berichtet gar von einen Umsatzplus von ca. 50 Prozent für Fahrradfachhändler laut Fachhandelsbarometer. „Die Läden wurden herausgefordert, neue Systeme zu entwickeln. Wir haben viel darüber gelernt, was möglich ist und wurden zur Digitalität gezwungen. Vieles davon können wir für die Zukunft übernehmen.
Die Stimmung ist deshalb optimistisch, viele Händler sind aber auch erschöpft“, berichtet er. Sorgenvoll für das nächste Jahr ist aus seiner Sicht aber die Liefersituation, was auch Stefan Reisinger, Bereichsleiter der Fachmesse Eurobike erkennt: „Verkaufen war in diesem Jahr einfach. Es gibt aber auch viele Sachen, die die Branche vor sich herschiebt, wie Beschaffung und Sourcing.“ Die Weltleitmesse am Bodensee musste dieses Jahr zwar coronabedingt abgesagt werden, aber Kommunikation und Netzwerken bleibt in der Fahrradwirtschaft ein wichtiger Faktor. Denn lange Planungen und Absprachen sind aufgrund der Vielzahl von Marktteilnehmern schwer zu treffen. Da Fahrräder aus vielen Kleinteilen von unterschiedlichen Zulieferern bestehen, stehen Fahrradhersteller aktuell vor logistischen Baustellen. „Die Leute kaufen auf Teufel komm raus. Die Supply-Chain ist auf diese eigentlich auffangbaren Zuwächse nicht ausgerichtet. Statt die Früchte zu ernten, stehen wir jetzt davor, alles ins Saatgut zu stecken. Das stellt gerade kleine Hersteller vor große Herausforderungen“, beschreibt Heiko Truppel die Situation beispielhaft für den Liegeradhersteller HP Velotechnik.
Verkäufe räumen die Lager leer
Denn im ersten Halbjahr sanken die Produktion sowie die Importe von Zweirädern, während die Verkäufe anzogen. Die Folge: leere Lager bei der Industrie, leere Shops bei den Händlern. „Wir haben
die Befürchtung, dass wir die ganze nächste Saison von der Hand in den Mund leben“, sagt Jörg Müsse, Geschäftsführer beim Händlerverbund Bike & Co. In Südostasien und China laufe die Produktion zwar wieder. Aber die Nachfrage weltweit ist deutlich höher als die Kapazitätsausweitungen in
Südostasien möglich sind. Dadurch verschieben sich die Vorlaufzeiten extrem. Wartezeiten von Bestellung bis Auslieferung von zwölf bis 14 Monaten sind mittlerweile gängig.
„Wir müssen extrem weit vorplanen, um uns Produktionsslots zu sichern“, berichtet Lara Santjer vom Markendistributeur Sport Import, der einen Großteil seiner Ware aus Asien bezieht. Auch deutsche Zubehörhersteller hätten mittlerweile Lieferzeiten von vier bis fünf Wochen. Obwohl man im Dreischichtbetrieb und am Wochenende arbeite, könne man aktuell kaum Lagervorräte für den eigentlichen Verkaufszeitraum im Frühjahr aufbauen, heißt es beispielsweise vom Pumpenspezialisten SKS Germany oder vom Taschenhersteller Ortlieb. „Die Nachfrage ist extrem groß, unsere Produktion läuft voll“, berichtet Nils Wigger vom E‑Bike-Antriebsanbieter Brose, der seine Antriebe in Berlin fertigt. Wartezeiten bis Mai seien dennoch durchaus realistisch. „Produktions- und Einkaufsplanung ist in diesem Jahr herausfordernder denn je“, weiß David Eisenberger, Presseverantwortlicher beim ZIV.
Leasing weiter auf dem Vormarsch
Teilweise werde vorgeorderte Ware der Händler sogar reduziert und gestrichen. Jörg Müsse ist sich deshalb sicher: „Es wird nicht zu Verschiebungen kommen, es wird zu einer Knappheit kommen.“
Dennoch rechnen viele Fachhändler mit einem Umsatzwachstum in der Saison 2021 von zehn bis 20 Prozent im Vergleich zu diesem Jahr. Woher der Optimismus? „Die Leute fahren einfach mehr Rad“, so
Müsse. Und der reine Blick auf die Verkaufszahlen blende einen großen Teil aus. „Immer mehr Umsätze werden über zusätzlichen Service gemacht. Leasing ist ein gutes Beispiel“, beschreibt Wasilis
von Rauch, Geschäftsführer beim Verband Zukunft Fahrrad. Er rechnet mit rund 350.000 Diensträdern in diesem Jahr – Tendenz weiter steigend. Auch Abomodelle erfahren einen Zulauf in den Städten.
„Hier ist eine ganze Menge Dynamik“, so von Rauch.
Radfahrer brauchen Sicherheit
Richtungsweisend werde im nächsten Jahr jedoch die Bundestagswahl als wichtiger Indikator für die gewünschte Verkehrswende. „Wenn wir die Radwelle in Deutschland reiten wollen, müssen wir gezielt
die Verkehrswende flächendeckend einleiten“, fordert deshalb Ragnhild Sørensen vom Verein Changing Cities, und ergänzt: „Wenn wir die Sicherheit auf den Straßen nicht hinbekommen, werden die
Leute nicht dauerhaft radfahren.“ Es braucht für den Wahlkampf eine klare Vision der Verkehrspolitik, die Richtung Verkehrswende geht und Schluss macht mit dem Stückwerk der letzten Jahre.
Sørensen wünscht sich deshalb auch von Seiten der Fahrradindustrie mehr Unterstützung für verkehrspolitische Themen, wie sie aus der Automobilindustrie bekannt ist: „Je besser die Infrastruktur, desto mehr Räder werden verkauft.“ Zum Beispiel sollte die Elektromobilitätsförderung nicht allein auf das Auto ausgerichtet sein. Es sei allerdings auch klar, dass die positive Entwicklung des Radverkehrs auch Widerstand hervorruft. Ein Beispiel ist die Klage der AfD gegen die Pop-up-Radwege in Berlin. „Darauf müssen wir uns einstellen und gemeinsam mit breiter Brust entgegentreten“, plädiert Albert Herresthal.