Der technische Fortschritt bringt der E‐Bike-Branche weiter ordentlichen Rückenwind. War der Erfolg lange Jahre scheinbar mit einem großen Motoranbieter verbunden, bietet der Markt Platz für viele Akteure, wie der pressedienst‐fahrrad aufzeigt. Der E‐Biker hat 2019 mehr denn je die Lust der Wahl.
Eurobike 2010. Am Stand von Haibike versammelt sich die Fachpresse. Bestaunt wird das erste serienmäßige E‐Mountainbike mit einem auffälligen Merkmal: ein um 180 Grad in das Innere des Rahmens gedrehter Mittelmotor von Bosch. Sowohl für den Schweinfurter Hersteller als auch für den Automobilzulieferer, dessen E‐Bike‐Sparte in Reutlingen beheimatet ist, ein erster Meilenstein für den folgenden E‐Bike‐Boom. Acht Jahre später ist der Fokus der Fachpresse während der Eurobike 2018 wieder auf Haibike gerichtet. Das neue E‐Bike‐Konzept „Flyon“ feiert seine Premiere. „Mit Flyon präsentieren wir ein E‐Bike‐Komplettsystem, das nicht nur stark unsere Handschrift trägt, sondern nach unseren Vorstellungen und Ideen entwickelt wurde“, sagt Matthias Rückerl, Brand Manager von Haibike. Flyon ist für den unterfränkischen Hersteller eine Ergänzung seiner breiten Produktpalette mit Antriebssystemen von Bosch und Yamaha. Als Entwicklungspartner konnte dabei der oberbayerische Hersteller TQ‐Systems gewonnen werden.
Die Nachfrage nach Alternativen steigt
Ähnlich wie Haibike geht es gerade vielen anderen E‐Bike‐Produzenten. Mit dem Bosch‐Antrieb existiert ein grundsolides System, das von seinen Fahrern geschätzt wird. Doch der E‐Bike‐Markt ist im Wandel. Die Fahrer wollen Alternativen – und die finden sie 2019 mehr denn je. „E‐Biker sind heute viel sensibler und wollen eine größere Auswahl als noch vor ein paar Jahren. Viele kaufen jetzt ihr zweites Elektrorad und sind auf der Suche nach einem Antrieb, der zu ihrem Fahrstil und Einsatzbereich passt. Deshalb bieten wir im Rahmen unserer Produktfamilie Brose Drive ganz unterschiedliche Antriebsmodelle an“, unterstreicht Horst Schuster, Leiter Vertrieb und Marketing der E‐Bike‐Sparte von Brose, die Bedeutung eines wachsenden Angebots. Bereits seit 2010 beschäftige man sich beim Automobilzulieferer mit E‐Bike‐Antrieben, 2014 kam der erste Motor auf den Markt. Mittlerweile sind rund 400.000 Brose‐Drive‐Antriebe unterwegs – Tendenz steigend. „Uns ist wichtig, ein natürliches Fahrgefühl zu vermitteln. Deshalb sind unsere Antriebe besonders leise und zeichnen sich durch ein sehr sensibles Ansprechverhalten aus. Dank unserer Freilauftechnologie kann man das E‐Bike bei abgeschaltetem Motor sogar ohne Tretwiderstand wie ein normales Rad fahren“, erklärt Schuster.
E‐Volution am Rad
Um den heutigen Erfolg der E‐Bikes zu erklären, muss man über 20 Jahre zurückblicken. 1996 stellte Panasonic sein erstes Mittelmotorkonzept vor. Für die Verbreitung in Europa wurde mit dem schweizerischen E‐Bike‐Pionier Flyer ein begeisterungsfähiger Partner gefunden. Der erfolgreiche Start für die Massenverbreitung von E‐Bikes wurde gelegt – und das weit bevor Bosch sein erstes System in Serie brachte. Die Kooperation zwischen Flyer und Panasonic trägt noch heute Früchte. Durch die enge, exklusive Zusammenarbeit können Rad‐ und Motorkonzept passend miteinander verknüpft werden, wie bei den neuen „Uproc“-E-Mountainbikes, die 2019 auf den Markt kommen. „Durch die innige Abstimmung mit dem Motorpartner ist es für uns möglich, die Antriebsteile optimal in den Rahmen zu integrieren.
Am Ende profitiert davon der E‐Biker, der einen möglichst steifen Rahmen erhält“, äußert Anja Knaus, Firmensprecherin von Flyer. Ein Highlight der Zusammenarbeit ist das sogenannte FIT‐System (Flyer Intelligent Technology). Alle wichtigen Komponenten bis hin zur Schaltung sind dabei vernetzt, was das Zusammenspiel verbessert und die Benutzerfreundlichkeit erhöht. Das Beispiel von Flyer zeigt aber auch, welche Marktkraft Bosch mittlerweile entwickelt hat: „Die starke Nachfrage nach Bosch‐Motoren, insbesondere in Deutschland, veranlasste uns trotz der guten Zusammenarbeit mit Panasonic dazu, zweigleisig zu fahren und auch Bosch‐E‐Bikes zu bauen. Ein Schritt, den wir aber nicht bereuen“, so Knaus. Die Intention der Hersteller wird dabei klar: Durch das wachsende Angebot an Motoren sollen E‐Biker mit passend abgestimmten Systemen versorgt werden und so noch mehr Spaß am Fahren bekommen – und die Nachfrage weiter steigern.
Nuancen entscheiden bei der Wahl
Das Spektrum reicht beim Fahrgefühl von „sehr fahrradähnlich“, wie beim Brose‐System, bis zu neuen Spielarten, die die Grenzen zum Motocross verwischen lassen, z. B. das TQ‐System. „Teilweise sind es nur Nuancen von einem zum anderen Rad, die einen Kunden zum Kauf animieren. Für uns ist es deshalb wichtig, eine möglichst breite Produktpalette in unserem Kernangebot ‚Allround‐Pedelec‘ aufzustellen, damit wir möglichst viele Kunden erreichen“, begründet Volker Dohrmann, Leiter Produkt, Strategie und Marketing bei Stevens Bikes, die Wahl eines zweiten Motorpartners neben Bosch. Der Hamburger Hersteller verbaut ab 2019 im City‐ und Trekkingbereich – auch aufgrund steigender Kundennachfrage – zusätzlich die Antriebe von Shimano, einem der größten Komponentenhersteller der Fahrradbranche.
Für Velotraum-Geschäftsführer Stefan Stiener ist es bei der Auswahl der Antriebsteile wichtig, dass der Fahrer weiterhin das Gefühl hat, „richtig Fahrrad zu fahren und nicht ausschließlich von einem Elektromotor durch die Gegend geschoben zu werden.“ Die Motoren des deutschen Marktführers Bosch fehlen deshalb im Sortiment des kleinen Custom‐made‐Anbieters. Stiener setzt ebenfalls auf Shimano, auch weil die Ersatzteile weltweit verfügbar sind. „Das ist für Reiseradfahrer, die in entlegenen Teilen der Welt unterwegs sind, ein wichtiges Kaufkriterium“, so Stiener. Als einer von wenigen Herstellern bietet er zusätzlich Räder mit einem Hinterradnabenmotor an. Eine direkte Kraftentfaltung, eine hohe Laufruhe und ein geringer Verschleiß sprächen für den Antrieb, der aktuell ein eher seltener Anblick an E‐Bikes ist. „Wenn der Anwendungsbereich und die persönlichen Vorlieben passen, bekommen Pendler ein verschleiß‐ und wartungsarmes Pedelec“, spricht sich Stiener für die Heckmotor‐Lösung aus.
Wachstum weckt Attraktivität
Diese Vorteile sieht man auch bei HP Velotechnik, einem Hersteller von Liegerädern und Trikes. „Ein Nabenmotor passt perfekt zur Charakteristik unserer Räder aufgrund seiner direkten Kraftübertragung und weil er so schön leise arbeitet. Auch ist ein einfaches Nachrüsten möglich. Wir sind sehr glücklich damit“, freut sich Pressesprecher Alexander Kraft. Daran ändere auch nichts, dass der langjährige Motorlieferant Go Swiss Drive, mit dem man zusammen Innovationen wie einen Rückwärtsgang entwickelt hat, überraschend vor wenigen Tagen die Einstellung des Geschäftsbetriebs bekannt gab. Für die Verantwortlichen bei HP Velotechnik war das zwar im ersten Moment eine ziemliche Überraschung, aber für das langfristige Arbeiten kein größeres Problem. „Es passiert immer einmal, dass ein Lieferant schließt. Der E‐Bike‐Bereich hat aktuell eine hohe Attraktivität und zieht viele Firmen an. Deshalb schaut man sich am Markt um und sucht nach den besten Lösungen für sein Produkt“, so Kraft. Als eine Alternative hat sich der Mittelmotor von Shimano bereits aufgetan, der bei den Liegerädern eher als Frontmotor zu bezeichnen ist, da er vorne am Tretlager angebracht ist. „Hier passt im Gegensatz zu anderen Systemen einfach das Gesamtpaket mit der Schaltung, speziell der Nabenschaltung“, begründet Kraft die Wahl.
Weitere Designs für neue Techniken
Die unterschiedlichen Konzepte ermöglichen dementsprechend neue Design‐Möglichkeiten für die Produktentwickler. „Unser neuer Drive S Mag ist der erste Motor, der im Magnesium‐Druckguss‐Verfahren hergestellt wird. Er ist leichter als andere Motoren und lässt sich auf zwei Arten in den Rahmen integrieren, was die Entwickler zu schätzen wissen“, erklärt Schuster beispielhaft die Vorteile des Brose‐Systems und ergänzt lächelnd: „So gewinnen wir Preise, wie kürzlich den renommierten Design und Innovation Award 2019.“ Mehrere Motorpartner sorgen jedoch auch für mehr Entwicklungsaufwand, da unterschiedliche Rahmen für die Aufnahme der unterschiedlichen Systeme konstruiert werden müssen. Für Markus Riese, Chefentwickler und Geschäftsführer bei Riese & Müller, ein wichtiger Grund, lediglich auf einen Motorpartner zu setzen.
„Die Konzentration auf nur einen Motorhersteller hat für uns den Vorteil, dass wir schon im Designprozess den genauen Einbau des Motors festlegen können, ohne einen zweiten Rahmen konstruieren zu müssen.“ Das Unternehmen arbeitet seit vielen Jahren ausschließlich mit Bosch zusammen, da das System äußerst zuverlässig sei, eine große Variation an unterschiedlichen Motortypen biete und stetig neue Innovationen, z. B. ein ABS, auf den Markt bringe. Diese Konzentration hat den Effekt, dass Entwicklungskosten bei der Integration der Antriebseinheit eingespart werden. Profitieren kann der Kunde: Es bleibt mehr Zeit für weitere Entwicklungen, was den Fahrkomfort verbessert. Durch die enge Zusammenarbeit mit dem Motorpartner können die Komponenten und weitere Anbauteile direkter mit dem E‐Bike‐Antrieb abgestimmt werden. Auffällige, innovative Rahmendesigns und Techniken gehören deshalb bei Rädern des Herstellers zur Normalität und bringen dem Unternehmen renommierte Auszeichnungen ein. „Wir setzen z. B. auf ein ausgeklügeltes Vollfederungskonzept, das beste Fahrsicherheit und Komfort mit einem sauberen, wartungsarmen Riemenantrieb kombiniert. Das gibt es in der Art bei keinem anderen Hersteller“, so Riese.
Mittelmotor hat auch Grenzen
Doch bei so manchen Konstruktionen stößt selbst das aktuelle breite Motorportfolio an seine Grenzen, wie das Beispiel von Brompton zeigt. Der Faltradanbieter brauchte drei Jahre, um eine mit dem ausgeklügelten Faltmechanismus kompatible E‐Lösung zu erarbeiten. Die gängigen Modelle erwiesen sich alle als ungeeignet. Das Ergebnis entstammt einer Zusammenarbeit mit dem aus der Formel 1 bekannten Unternehmen Williams Advanced Engineering und ist ein kleiner Vorderradnabenmotor. Der Akku wird in einer Tasche transportiert und bei Bedarf an das Rad geklickt. „Das aktuelle Konzept wäre mit einem Mittelmotor nicht denkbar. Es ist deshalb schön, dass der Motormarkt ein breites Sortiment mit vielen unterschiedlichen Möglichkeiten anbietet. Den größten Vorteil zieht dabei der Radfahrer, denn er kann das für ihn optimale Produkt aussuchen“, fasst Henning Voss, Geschäftsführer vom deutschen Brompton‐Partner Voss Spezial‐Rad, die aktuelle Entwicklung passend zusammen.