Fast wäre die Scheibenbremse am Rennrad an Sicherheitsbedenken gescheitert. Dabei kann sie den Straßenradsport sicherer machen als je zuvor. Wenn die Reifen breit genug sind.
Wer Scheibenbremsen nicht traut, der sollte zweimal auf Mountainbikes einen steilen Alpenpass hinunterrasen: Erst mit Cantileverbremsen und dicken Reifen mit wenig Luftdruck (schwache Bremsen,
aber viel Grip). Und dann auf einem Bike mit Scheibenbremsen und dünnen Reifen mit viel Luftdruck (starke Bremsen, aber zu wenig Grip). Die sicherste Kombination: Scheibenbremsen, dicke Reifen,
wenig Luftdruck. Auf Schotter spürt man die Vor- und Nachteile der Bremsen und Reifen noch deutlicher als auf Asphalt. Das Mountainbike ist im Vergleich zum Rennrad quasi ein Katalysator der Vor-
und Nachteile von Bremsen und Reifen. Obwohl Rennradfahrer mit Scheibenbremsen also sicherer bremsen können als je zuvor, wäre die Zulassung im Profisport fast gescheitert.
„Ein breiterer Reifen überträgt durch seine größere Aufstandsfläche die Bremskräfte besser auf die Straße. Das kann bei Scheibenbremsen, die in der Regel etwas kräftiger zupacken als Felgenbremsen, ein Vorteil sein. Außerdem rollen breitere Reifen leichter und komfortabler. Wir propagieren daher schon seit Jahren breitere Reifen auch im Rennradbereich. Aus Sicherheitsgründen zwingend notwendig sind breitere Reifen für Scheibenbremsen unserer Meinung nach allerdings nicht.“
Doris Klytta, PR-Mitarbeiterin, Schwalbe
Natürlich birgt die Scheibenbremse auch Risiken: Da man mit ihr später und stärker bremst als mit einer Felgenbremse, steigt die Unfallgefahr im Peloton, wenn beide Sorten Bremsen verwendet werden. Und die rotierende Scheibe mit ihren 90-Grad-Kanten und teils gar mit sägezahnartigem Profil kann Haut aufreißen und ins Fleisch schneiden. Genau das wurde als Ursache unterstellt, als bei Paris-Roubaix ein Profi sich den Unterschenkel bei einem Sturz bis zum Knochen aufschlitzte (tatsächlich war es ein Kettenblatt). Und das ausgerechnet während der Testphase. Erst nahm die UCI die temporäre Zulassung und kurz darauf die Rücknahme der Zulassung zurück. Der Kompromiss: Die 90-Grad-Kanten der Bremsscheiben werden abgerundet, die zwei Millimeter starke Stahlscheibe kann also nicht mehr so einfach Haut aufschneiden. Doch überwiegen die Risiken die Vorteile der Scheibenbremse?
„Definitiv sollten Rennräder mit Scheibenbremsen tendenziell auf breiteren Reifen rollen. Die höhere Auflagefläche sorgt dafür, dass bis zu dem Punkt, an dem das Laufrad beim Blockieren ins
Rutschen geraten würde, mehr Bremskraft aufgewendet werden kann und damit natürlich auch stärker verzögert wird. Da aber generell im Rennradbereich ohnehin der Trend zu breiteren Reifen geht,
erfordert das eigentlich gar kein großes Umdenken.“
Michael Wild, PR-Manager Paul Lange & Co
Reifen: Aufstandfläche zählt
Die Gründe für die zurückhaltende Anerkennung des Sicherheitsgewinns liegen wohl tief in der Geschichte des Straßenradsports. Die gängige Reifenbreite unter Profis und Hobbyfahrern war über
Jahrzehnte 23 Millimeter, einige experimentierten gar mit lediglich 21 oder 19 Millimeter breiten Reifen. Auch Mountainbiker rasten früher auf stollenarmen, prall aufgepumpten 1,9-Zoll-Reifen die
Rennstrecken entlang. Ein Wahnsinn. Wahrscheinlich nur logisch, dass Biker als erste nicht nur die Vorteile von Scheibenbremsen, sondern auch die Vorteile deutlich breiterer Reifen mit weniger
Luftdruck verstanden: Die größere Kontaktfläche zwischen Reifen und Boden bringt 1. mehr Kontrolle (!) beim Bremsen 2. weniger Rollwiderstand und 3. mehr Dämpfung. Den Unterschied kann man
auf dicken MTB-Reifen mit großen Stollen und wenig Luftdruck auf Asphalt beim scharfen Bremsen sogar hören. Das aktuell neben 23 Millimetern gängige Maß an Rennrädern sind 25 Millimeter, bei
manchen Rennen auch 28 Millimeter. Kurz nach diesen breiteren Reifen kam auch die Scheibenbremse für Rennräder auf den Markt. Ob es anders herum jemals geklappt hätte? Zumindest hätte es die
Scheibenbremse ohne Breitreifen schwerer gehabt.
„Die Reifenbreite hat nichts mit den Bremsen zu tun – wir können da keinen kausalen Zusammenhang herstellen. Ohne Verbindungssteg zwischen den Sitzstreben zur Aufnahme der Felgenbremse passen breitere Reifen natürlich einfacher und empfehlen sich deshalb noch eher, aber noch mal: Die Reifenbreite wird aufgrund des Untergrundes gewählt. Dass breite Reifen mit ihrer grundsätzlich besseren Traktion gegenüber schmaleren Modellen natürlich auch die Bremswirkung besser „auf die Straße bringen“ (negative Beschleunigung ist ja auch eine Traktionsfrage), ist für beide Bremssysteme ein Vorteil.“
Thorsten Lewandowski,
PR-Manager Merida & Centurion Germany
Weniger wichtig: Bremskraft
Zwar kann man auch mit Felgenbremsen die Reifen blockieren, der Gewinn an maximaler Bremskraft durch Scheibenbremsen ist also nutzlos. Entscheidender Vorteil der Scheibenbremse ist aber der
knackigere Druckpunkt im Grenzbereich zwischen Verzögerung und Blockade sowie die höhere Bremskraft bei moderater Handkraft. Dieser erlaubt mehr Kontrolle als eine Seilzugbremse. Man kann also
mit der Scheibenbremse besonders kontrolliert hohe Bremskraft aufbauen weil man deutlicher spürt, wie stark man noch ziehen darf, bis die Räder blockieren. Statt durch langes Schleifen vor der
Kurve bremst man also kurz und heftig – und wer später bremst, ist länger schnell!
"Scheibenbremsen und breite Reifen sind ein Segen, besonders für Hobbyfahrer und bei schlechten Bedingungen. 25 Millimeter breite Reifen empfehle ich jedem, sogar 28 Millimeter Breite sind
für manche vertretbar. Sie können mit weniger Druck gefahren werden und haften gut. Nur mit schmalen Felgen leidet die Aerodynamik, aber es gibt immer mehr breite Felgen. Scheibenbremsen sind
kraftvoll und gut zu dosieren, zusammen mit breiteren Reifen kommt die Bremskraft besser auf die Straße.“
Dirk Zedler, Geschäftsführer Zedler – Institut für Fahrradtechnik und -Sicherheit GmbH und Rennradfreak
Kontrolle schlägt Bremskraft
Die Verzögerung einer modernen Scheibenbremse wird also nicht durch die äußerst hohe Bremskraft limitiert (wie etwa bei 90er Jahre Mountainbikes mit abgenudelten Cantileverbremsen), sondern durch
die Traktion. Dünne Reifen und hoher Luftdruck bedeuten eine geringe Kontaktfläche zur Straße und so 1. eine geringere Übertragung von Bremskraft und 2. einen geringeren Grenzbereich zwischen
starker Verzögerung und einem blockierten Rad. Dicke Reifen mit wenig Luftdruck übertragen nicht nur mehr Bremskraft, sondern erweitern sogar den Grenzbereich zwischen Verzögerung und Blockade.
Das Rad bremst gutmütiger, also sicherer.
Warum fährt man dann nicht noch dickere Reifen mit noch weniger Luftdruck? Je breiter der Reifen, desto aerodynamisch ungünstiger und schwerer ist das Laufrad. Auch der Bremssattel einer
Scheibenbremse sowie die dicke Nabe sind aerodynamisch selbst der unverkleideten Felgenbremse unterlegen. Dem gegenüber steht der niedrigere Schwerpunkt eines Rennrades mit Scheibenbremsen – so
fährt man schneller um die Kurve. Wer das nicht glaubt, der sollte sich mal fragen, warum er in der Kurve das Innenbein in die Kurve legt. Oder warum manche Abfahrtskünstler auch noch den Kopf
ins Kurveninnere neigen.
„Die Gummireibung nimmt mit zunehmender Auflagefläche zu. Das heißt, dass mit einem breiteren Reifen und leicht geringerem Luftdruck sich die Reifenaufstandsfläche und damit die
Bremskraftübertragung vergrößern. Der Bremsweg verkürzt sich. Ob Scheibenbremse oder nicht spielt dabei aber erstmal keine Rolle. Auch ein Rad mit herkömmlichen Felgenbremsen profitiert hiervon.
Sowohl mit Scheiben- als auch mit Felgenbremsen kann man ein Rad blockieren. Dieser Übergang zur Gleitreibung ist relativ schnell und mit beiden Bremsarten erreicht und hängt natürlich auch sehr
stark vom Untergrund ab. Bei der Wahl der Bremse geht es mehr um die erforderliche Handkraft zur Erreichung der maximalen Bremskraft, bei der der Reifen gerade eben noch nicht
losbricht.“
Wolf vorm Walde, Geschäftsführer
Specialized Engineering GmbH
Die größte Bremse
Ein weiterer Grund für die zögerliche Verbreitung der Scheibenbremse ist das Wesen der UCI: Der Verband will, dass der beste Radfahrer gewinnt. Dafür schaffen die Funktionäre ein Mindestmaß an
„Waffengleichheit“ bei den Fahrrädern: das Mindestgewicht, den Diamantrahmen, das Verbot aerodynamischer Verkleidungen. Überspitzt ausgedrückt: Den Funktionären kann es egal sein, wie modern oder
veraltet Fahrräder sind, solange sie alle nur gleich sind.
Die Hersteller wollen natürlich, dass ihre Fahrräder gewinnen. Am besten noch mit beliebigen Fahrern darauf, weil das die Überlegenheit ihrer Räder unterstreicht. Darum hat die UCI weniger
Interesse an technischem Fortschritt (also auch an Scheibenbremsen), als die Hersteller. Natürlich geht es der UCI vor allem aber um Sicherheit. Darum arbeitet sie bei Scheibenbremsen mit fast
genau so viel Hochdruck an einer Lösung wie bei Unfällen mit Begleitmotorrädern und -autos, die dieses Jahr unter den Profis schon einen Toten und zahlreiche Verletzte gefordert haben – und hat
zunächst die Scheibenbremse wieder verboten.
„Alles ist besser mit Scheibenbremsen. Man fährt schneller bergab und durch Kurven, besonders bei Nässe. Höheres Tempo lässt die Eigenschaften eines Reifens deutlicher hervortreten, besonders
in Bezug auf Aerodynamik, Komfort oder Traktion. Welchen Reifen wir empfehlen, hängt aber nicht von Scheiben- oder Felgenbremsen ab, sondern vom Einsatzzweck.“
Geraldine Bergeron
Road Marketing Manager Sram
Möglicherweise haben auch wirtschaftliche Interessen der Hersteller (von denen die UCI zumindest indirekt über die Zahlungen der Profiteams an den Verband abhängig ist), zur erneuten Freigabe der
Scheibenbremsen geführt. Merida, immerhin einer der wichtigsten Rahmenhersteller der Welt, hat Rennräder mit Scheibenbremsen dieses Frühjahr besonders offensiv vermarktet. Am stärksten setzt
bisher das Lampre-Merida Team auf Scheiben: Bei einigen Frühjahrsklassikern fuhr die Mannschaft geschlossen mit Scheibenbremsen. Stark überspitzt ausgedrückt geht es also vor allem um Sicherheit,
aber auch um Geld. Beides also klare Argumente für Scheibenbremsen, und es sieht ja auch wieder aus, als ob die UCI ihr Einverständnis dauerhaft gibt.
Alles gut, also? Wenn die Scheibenbremse endlich dauerhaft zugelassen wird: Ja. Wenn nicht, dann sollte UCI-Präsident Brian Cookson sich mal mit einem Cantileverbremsen-Mountainbike einen
Alpenpass hinabstürzen.
„Wir empfehlen grundsätzlich breitere Reifen, weil sie leichter rollen. Die Scheibenbremse beeinflusst nicht direkt die Reifenbreite, da aktuelle Gabeln und Felgenbremsen meist ohnehin Platz
für 28 Millimeter lassen. Darüber hinaus sollte man als race-orientierter Fahrer auch nicht gehen. Die reale Reifenbreite hängt stark von der Felgenbreite ab. Je breiter die Felge, desto breiter
auch der Reifen, da er weniger ,eingeschnürt‘ wird. Scheibenbremsen heizen die Felge nicht auf, dies kann die Reifenentwicklung positiv beeinflussen. In jedem Fall ist es ein Sicherheitsgewinn im
Hinblick auf platzende Schläuche durch Hitze.“
Benjamin Blaurock
Produktmanager Continental